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Was ist Liebe?

 
Herr Professor Dr. Schlicht
hält in Prima voll Genie
geograph’schen Unterricht,
über Preußen sprechen sie;
mit viel Städten, Seen und Flüssen,
denn Primaner müssen’s wissen.

Plötzlich wendet sich Herr Schlicht
an den Primus, und er spricht:
"Sagen Sie, mein lieber Wiebe,
sagen Sie, was ist die Liebe?"
Wiebe wird ganz dunkelrot,
schämt sich dieser Frag’ halb tot.
Plötzlich stottert er und spricht:
"Liebe - Liebe ist, wenn man küßt."

"Was", schreit Herr Professor Dr. Schlicht,
"Nächster, wissen Sie es nicht?"
Der Sekundaner war sehr klug,
er wußte von der Liebe grad genug.
Darum disputiert er fein:
"Liebe teilt man dreifach ein:
Lieb’ zum Freunde, Lieb’ zum Weibe,
Lieb’ zum ..."
"Sie faseln, wie mir scheint!" unterbricht
Herr Professor Dr. Schlicht.

"Nächster, wissen Sie es nicht?"
Doch dieser Nächste war ein Schwärmer,
und sein Herz schlug eben wärmer,
denn er macht ein Gedicht
auf ein Mädchenangesicht.
Und da man ihn nun fragte,
er voll Schwärmerei gleich sagte:
"Die Liebe ist des Jünglings Sehnen,
zieht ihm das Herz zur Jungfrau hin,
und wenn die Schöne unter Tränen
des süßen Schmerzes trägt im Sinn.
Ein Mädchenbild, so hold und rein,
das ist die Liebe ganz allein!"
"Sie sind ein Esel!" ruft
Herr Professor Dr. Schlicht
und schnappt vor Wut nacht Luft.
"Das Abitur besteh’n Sie nicht!"

"Nächster, auf der Stell’
aber sagen Sie es schnell!"
Reixel, bester Geograph,
sonst in der Schule ein Schaf.
Muttersöhnchen, kennt man schon!
"Die Liebe, Herr Professor, ist -
wenn mich meine Mami küßt!"
"Was, auch Reixel weiß es nicht?
Was der ganze Unsinn soll,
die Sache wird mir doch zu toll!
Die Liebe ist, mein lieber Reixel,
ein rechter Nebenfluß der Weichsel!" 
 

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